Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Herberge zur Heimat

Seit dem Mittelalter war es in Europa Tradition, dass Handwerksburschen und Gesellen zur Absolvierung ihrer Lehrjahre auf Reisen gingen. Im Mittelalter waren es die Klöster, welche die Wanderer aufnahmen; im 18. Jhdt. waren es Zünfte und Innungen, welche die Herbergen unter ihrer Obhut hatten und den wandernden Gesellen Arbeit vermittelten. Der 30-jährige Krieg sowie Änderungen der Denkweise und der Gebräuche liessen Bedeutung und Aktivität der Zünfte schwinden. Die Herbergen verfielen zusehends oder wurden zu Stätten in welchen viel gezecht und getrunken wurde. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, eröffnete im Jahr 1854 Prof. Clemens Theodor Perthes in Bonn die erste christliche Herberge zur Heimat.

Der spätere Hausvater der Herberge in Zürich, Carl August Meier, definierte den Zweck einer Herberge zur Heimat folgendermassen:
„Sie ist ein Gasthaus, welches nicht nur in leiblicher Beziehung für das Wohl der Einkehrenden, sondern auch auf die sittlich religiöse Bewahrung und Förderung einzuwirken sucht. Nicht bloss ein Gasthaus will sein, sondern ein christl. Heim, in dem gegen Entgelt das bestmögliche geboten wird: kräftige Kost, gesundes Getränk, ein sauberes Bett. Eine Herberge, die nur Gasthaus ohne christl. Hintergrund ist, wäre der Mühen des Edlen nicht wert. Mag sie auch jedem, ohne Unterschied auf Religion offenstehen, so darf die positive Einwirkung, die nicht allein sittlich, sondern auch christlich sein soll, nicht fehlen.“ (1914)

1866 kann in Zürich der Christl. Jünglingsverein seine Idee von Herberge und Hospiz verwirklichen, indem er im Juli 1866 den Augustinerhof günstig von der Evangelischen Gesellschaft pachten kann. Die erforderlichen Fr. 12‘000.00 für den Umbau stellt der Christliche Jünglingsverein zur Verfügung. Mitgliedern dieses Vereins stehen über 40 Betten sowie Möglichkeiten zur Verpflegung, Aufenthaltsräume und regelmässige Andachten zur Verfügung.
1871 wird die Bettenzahl, ob des grossen Andrangs bereits auf 65 erhöht. 150 Personen finden sich täglich zu Mahlzeiten ein, welche auf jedem Stockwerk serviert werden, da es an einem grossen Saal mangelt.
1882 wird von der Gemeinnützigen Gesellschaft ein Verband für Naturalverpflegung nach dem Vorbild von Pastor Bodelschwinghs gegründet, um mittellosen Wanderern eine Nachtverpflegung zu offerieren. Die Herberge wird in Zürich zu einem der 3 Häuser, welche diese Verpflegung abgeben. Je nach Arbeitsmarkt werden 3000 bis 6000 Mahlzeiten pro Jahr abgegeben.
1885 wurde das Haus „zum Widder“ von der Evangelischen Gesellschaft erstanden und das Hospiz dorthin verlegt. In dieser Zeit übernahm die Evangelische Gesellschaft die Herberge und das Hospiz vom Christlichen Jünglingsverein, was unter anderem auch finanzielle Erleichterung brachte. Ungewöhnlich war für diese Zeit die Einrichtung einer alkoholfreien Kaffeestube in der Herberge, welche bald häufig frequentiert wurde.
1891 übernahm Carl August Meier, welcher die Herberge bis 1914 leiten sollte die Stellung des Hausvaters von H. Weltin, der in den Ruhestand ging. Unter C.A. Meier kam es rasch zu einem weiteren Aufschwung, wodurch die Raumnot immer prekärer wurde. Meier schreibt über sein Arbeit: „Es ist das schönste im Leben eines Hausvaters, wenn er das Vertrauen seiner Schützlinge geniesst und sie mit ihren persönlichen Anliegen und Wünschen zu ihm kommen und ihn nicht nur, wie es in einer echten Herberge Brauch ist, mit Vater anreden.“
1897 konnte die Evangelische Gesellschaft glücklicherweise an der Geigergasse die Häuser Nr. 3 + Nr. 5 (auch bekannt als Geigerhaus) erstehen. Mit einem Budget von 45‘000 wurde umgebaut. Es entstanden Schlafsäle, eine grosse Küche sowie 2 neue Säle für Verpflegung und Aufenthalt. Bereits Im Dezember 1897 konnte die Herberge vom Augustinerhof an die Geigergasse umziehen und im neuen Haus nun 91 anstatt 65 Betten zur Verfügung stellen. In der folgenden Zeit gewann die Arbeitsvermittlung immer mehr an Bedeutung; unentgeltlich vermittelte die Herberge jährlich an 900 bis 1300 Personen Arbeit, was als eine ihrer wichtigsten Aufgaben wurde.
1898 teilte sich die bis dahin für die Herberge an der Geigergasse und das Hospiz zum Widder zuständige Kommission in 2 Kommissionen, sodass die Herberge ein eigener Arbeitszweig der Evangelischen Gesellschaft wurde.
1901 nahm Hausvater Meier die Fabrikation von Limonade in der Herberge auf, um dem immer prekärer werdenden Bierkonsum entgegenzuwirken. Zu seinem eigenen Erstaunen fand dies grossen Anklang, die Produktion stieg auf 10‘000 Flaschen pro Jahr und der Bierkonsum ging merklich zurück.
1907 und in den folgenden Jahren war die Bevölkerungszunahme in Zürich gross, die damit verbundene rege Bautätigkeit lockte viele Handwerker an und die Herberge musste neben den 91 Betten noch 12 Notlager errichten.
1911 kam es im Zuge dieser Entwicklung zum Kauf von 2 Häusern in der Häringstrasse durch die Evang. Gesellschaft, wo schon im November 1911 eine 2. Herberge mit 35 Zimmern und 90 Betten in Betrieb genommen werden konnte. Auch in dieser Zeit war die unentgeltliche Arbeitsvermittlung eine wichtige Dienstleistung der Herberge, obwohl die Einrichtung eines städt. Arbeitsamts eine spürbare Entlastung brachte. Die Einrichtung von Nachtasylen und sozialistischen Gewerkschaftsherbergen linderte die Not an Unterkünften, dennoch bevorzugten viele Handwerksburschen die christl. geführte Herberge.
1914 fanden diverse Umbauten in der Herberge statt. Der langjährige Hausvater, C. A. Meier trat In den Ruhestand. Seine Nachfolger, Herr und Frau Höhn (1914-37) führten erstmals ein totales Alkoholverbot in der Herberge zur Heimat ein, welches bis heute Gültigkeit hat.
1920 In den 20er und 30er-Jahren wurde die Arbeitsvermittlung zunehmend schwierig, der Arbeitsmarkt war ausgetrocknet und viele Bettler übernachteten in der Herberge zur Heimat, welche sich ernsthaft Gedanken machte, wie das Problem des Hausbettelns wohl anzugehen und inwieweit solche Leute durch Gewährung von Obdach unterstützt werden sollten. Viele Menschen wurden in diesen Jahren durch die Fürsorge an die Herberge verwiesen, wo Sie auch Unterstützung fanden.
1940 war trotz der allgemeinen Mobilmachung die Herberge noch immer zu 98% belegt, da es vermehrt Arbeitsmöglichkeiten in Zürich gab.
1942 und in den folgenden Kriegsjahren kam es zu einem deutlichen Rückgang der Belegung, von 110 Betten waren nur noch 68% belegt, in diesen Jahren änderte sich die Zusammensetzung der Gäste drastisch, die Bettler verschwanden und an ihre Stelle traten selbstzahlende Arbeiter und vermehrt Dauergäste. Schwierigkeiten in der internen Betriebsführung und notwendige bauliche Veränderungen, welche aufgrund der belasteten Betriebsrechnung nicht realisiert werden konnten, erschwerten das Leben in der Herberge in diesen Jahren zusätzlich.
1945 mit dem Kriegsende kam der Aufschwung, gute Arbeitsmöglichkeiten liessen das Bedürfnis nach Arbeitsvermittlung schwinden, auch die Naturalverpflegung spielte kaum noch eine Rolle, da die Wanderarbeitslosen verschwunden waren. Die Wohnungsnot war auch in diesen Jahren sehr gross. Günstiger Wohnraum ging durch Spekulationen verloren, sodass der Anteil an Dauergästen noch mehr zunahm.
1947 beginnen die italienischen Saisonniers einen beachtlichen Anteil der Belegschaft auszumachen, da sie hier in der Herberge eine billige Unterkunft fanden.
1949 war die Hochkonjunktur bereits wieder im Abstieg, weniger tüchtige und qualifizierte Arbeiter fanden keine Arbeit mehr, vermehrt kamen wieder Gäste über das Fürsorgeamt in die Herberge. In den ersten Nachkriegsjahren hatte die Leitung der Herberge immer wieder mit Personalproblemen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, zudem forderte nun auch das Gesundheitsamt bauliche Veränderungen der sanitären Anlagen. Doch woher Geld und Arbeitskräfte nehmen?
1950 konnte der Umbau mit dem vom Einsturz bedrohten Küchenboden und Decke realisiert werden. Mit dem Einverständnis des Büros für Altstadtsanierung wurde auf einen Abbruch der Liegenschaft verzichtet und das Haus dank eines unbefristeten zinslosen Darlehens der Stadt unter Weiterführung des Betriebes renoviert. In dieser Zeit bot die Herberge neben den langjährigen Dauergästen und Saisonniers vor allem Arbeitslosen Obdach.
1951 konnten die Umbauarbeiten nach 14-monatiger Umbauzeit abgeschlossen werden, beide Häuser (Nr. 3+ 5) waren nun miteinander verbunden, eine neue Küche sowie eine Waschküche eingerichtet, Personalzimmer sowie eine neue Heimleiterwohnung standen zur Verfügung. Das Haus beherbergte 150 Betten und 95 Sitzplätze im Restaurant. Mit einer Belegung von 98% war die Herberge voll ausgelastet.
1956 konnten für alle Bewohner Schränke angeschafft werden, das Haus war mit zunehmender Obdachlosigkeit immer gefüllt. Grosse Schwierigkeiten bereitete die lange und erfolglose Personalsuche, sodass im folgenden Jahr das Restaurant für 2 Wochen geschlossen werden musste, um dem Personal Ferien zu ermöglichen.
1957 Neben den italienischen und deutschen Saisonniers übernachteten in dieser Zeit auch viele ungarische Flüchtlinge in der Herberge, was oft zu Spannungen und Problemen des Zusammenlebens führte.
1961 erforderten die immer grösser werdenden Personalschwierigkeiten eine teilweise Schliessung des Restaurants. Unter der Woche wurde das Mittagessen gestrichen, an Wochenenden das Nachtessen. Dennoch war die Herberge immer gefüllt und viele Obdach-Suchende mit der Kostengutsprache des Fürsorgeamtes mussten abgewiesen werden.
1962 kam es zu einer starken Zunahme von Gästen aus Balkanländern und der Türkei, ein Drittel der Gäste kam aus anderen europäischen Ländern. Es bahnten sich grössere Spannungen mit der Nachbarschaft an, dies infolge der mangelnden Ventilation in der Küche.
1963 erfolgte durch die Einrichtung von Notschlafstellen, des Caritas-Hospizes, sowie Sieber’s Nachtasyl ein leichter Bettenrückgang. Ein Brand im 5. Stockwerk führte letztendlich zur Einrichtung moderner Waschräume. Wegen der ständig steigenden Personalkosten wurde ein Subventionsgesuch eingereicht, die Stadt übernahm die Hälfte des Defizits, max. 10‘000.-
1964 konnte aufgrund des andauernden Personalmangels nur noch das Frühstück abgegeben werden. Die Herberge drohte zu einem billigen Hotel Garni zu werden, in dem die Gäste zwar ein Bett, aber kaum noch Hilfestellung und persönlichen Kontakt fanden, da das Restaurant als Haupttreffpunkt geschlossen war. Ein Einreisestop für ausländische Arbeiter liess die Belegung drastisch zurückgehen, worauf die Bettenzahl von 150 auf 95 reduziert wurde.Der neue Heimleiter, Diakon von der Crone, welcher Fritz Maag und seine Frau ablöste, richtete sein Augenmerk in den folgenden Jahren vermehrt auf die Freizeit der Bewohner.
1967 konnte erstmals ein Ausflug für Gäste aufs Land stattfinden, wo sie sich zu einer Andacht versammelten. Neben Andachten wurden immer häufiger Spielabende, Filmveranstaltungen und eine grosse, alkoholfreie Silvesterfeier organisiert.
1969 hatte sich die wirtschaftliche Situation so verbessert, dass laut von der Crone bei den Gästen der Wohlstand ausgebrochen war und die Frequentierung des Restaurants sehr zurückging; noch 17 von 95 Gästen nahmen im Durchschnitt am Nachtessen teil.
1971 wurde durch Brandstiftung der Dachstock der Herberge zur Heimat völlig zerstört; es kam zum Glück niemand zu Schaden.
1972 begeht die Herberge zur Heimat an der Geigergasse ihr 75-jähriges Jubiläum. In einem Zeitungsartikel der NZZ heisst es dazu : „Heimat für Randexistenzen – Die Gäste sind nicht mehr Wanderburschen, sondern mehrheitlich Dauerpensionäre, ältere Männer, welche als Aussenseiter der Gesellschaft keine andere Unterkunft finden konnten, nach dem Tod ihrer Frau verwahrlosten oder einen schwierigen Charakter haben. Die meisten gehen einer geregelten Arbeit nach, andere sind Clochards, die bei gutem Wetter im Freien, bei schlechtem in der Herberge übernachten.“ (NZZ 31.12.72)
1973 nimmt die Problematik mit Drogensüchtigen ihren Anfang, die neben den Alkoholikern und psychisch Kranken, Leitung und Mitarbeiter beanspruchen. Zur Lösung finanzieller Probleme bewilligt die Stadt einen erhöhten Defizitbetrag.
1979 Mit der Übernahme der Heimleitung von Herrn Malaun baut das Ehepaar Thurnheer die Dienstleistungen in der Herberge aus, vor allem im Verpflegungsbereich und im Bezug auf die Öffnungszeiten des Hauses. Die Probleme mit Drogenabhängigen nehmen weiter zu.
1982 konnte die dringend notwendige Renovation der Herberge zur Heimat beschlossen werden. Für die Zeit des Umbaus vermittelte das Sozialamt eine Liegenschaft an der Selnaustrasse, damit dort der Herbergebetrieb weitergeführt werden konnte.
1983 fand der Umzug in die Selnaustrasse statt, wo statt 100 nur 60 Betten zur Verfügung standen. Im November 1983 konnten die Männer das renovierte Haus an der Geigergasse beziehen, welches nun nur noch 70 Männern in 32 Zimmern Platz bot.
1984 bis heute: in den folgenden Jahren gab es in der Herberge immer wieder Veränderungen:
Der Anteil psychisch kranker Menschen nahm stark zu, immer weniger Gäste waren arbeitsfähig und die meisten blieben länger; die Herberge zur Heimat wurde mehr und mehr vom Obdachlosenheim zu einem Wohnheim. Durch die Einführung einer individuellen Betreuung für jeden Bewohner konnten einerseits diejenigen, welche diese Betreuung in Anspruch nahmen, besser unterstützt werden, zum anderen liess auch das raue Klima merklich nach. Die Herberge ist heute weniger ein Ort, wo es sich durchzusetzen gilt, doch mehr ein Zuhause für viele Bewohner geworden, wo es Raum gibt, Schwierigkeiten und Sorgen abzuladen.

Schlussbemerkung

Beim Überarbeiten der Geschichte der Herberge zur Heimat werden 2 Dinge besonders deutlich:
Zum einen, wie sehr Probleme und Schwierigkeiten, mit denen Leitung und Mitarbeiter in einer Herberge vor 100 Jahren zu kämpfen hatten, auch heute noch ihre Gültigkeit haben: Wohnungsknappheit, Arbeitslosigkeit oder Zeiten von Hochkonjunktur, der Umgang mit schwierigen Gästen, das Problem übermässigen Alkoholkonsums, Personalprobleme und immer wieder finanzielle Schwierigkeiten prägten das Leben – stets begleitet vom Idealismus, den Schwächeren und Hilfsbedürftigeren der Gesellschaft Unterstützung, sowie eine Heimat zu bieten. Zum anderen zeigt die Geschichte, wie sehr die Entwicklung der Herberge sich jeweils gemäss den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen wandelte und wie sehr es damals, wie heute notwendig ist, sich der Zeit und ihren Erfordernissen anzupassen.

Quellennachweise

  • 50 Jahre Herbergdienst, August Meier, 1918

  • Jahresberichte der Evang. Gesellschaft 1947 – 1986

  • Haus – und Jahresberichte der Herberge zur Heimat von 1936 -1990

  • Diverse Zeitungsartikel : Blatt für Alle 2/63, NZZ 31.12.1972, TA, 28.07.1973, Kirchbote, 16.02.1983

  • mündliche Berichte von langjährigen Bewohnern